Berufsverbote vor 110 Jahren in Weiden
Karl Bayer
Weiden vor 110 Jahren: Wegen „Käsblatt“ entlassen!
Reichsweites Aufsehen erregte vor 110 Jahren die Entlassung dreier Weidener Werkstättenarbeiter aus den Diensten der Königlich bayerischen Staatseisenbahn wegen sozialdemokratischer Betätigung.
Grund dafür war das „Käsblatt“, eine Faschingsbeilage der in Nürnberg erscheinenden „Fränkischen Tagespost“.
Die „Tagespost“ ist eine von 81 sozialdemokratischen Tageszeitungen, die im Jahr 1911 auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreiches die sozialistische Idee propagieren.
Die Zeitung aus der „Noris“ ist das Organ der nordbayerischen Sozialdemokraten und zählt 1911 in der Stadt Weiden 76 Abonnenten.
Eine folgenschwere Denunziation
Ihren Lauf nehmen die Ereignisse am Freitag, den 17. Februar 1911. Es ist Faschingszeit.
An diesem Tag erhält die Weidener Zeitungszustellerin der „Fränkischen Verlagsanstalt“, Frau Burgau, „mit den fälligen Exemplaren der sozialdemokratischen Zeitung aus Nürnberg auch 50 Exemplare der Faschingsbeilage der „Fränkischen Tagespost“, genannt, „Das Käsblatt“ mitgesandt, die zum Vertrieb in Weiden bestimmt waren“.
Frau Burgau ist als Austrägerin für die Verteilung des sozialdemokratischen Publikationsorgans in Weiden zuständig.
Tags darauf, am Abend des 18. Februars bietet der Ehemann der Zustellerin, der Werkstättenarbeiter Friedrich Burgau, Gewerkschafter und Sozialdemokrat, in der „Restauration zur Sonne“ (heute Handwerkerhaus) das „politisch -satirische Witzblatt“ zum Verkauf an.
Die Satirezeitung findet reißenden Absatz, wird doch die in der Oberpfalz dominierende katholische Zentrumspartei, deren Mandatsträger und der mit ihr verbundene Klerus mit Spott überzogen.
Pächter der „Sonne“ ist der Bahnschlosser und Partieführer (=Vorarbeiter, d. A.) Johann Bär, aktives Mitglied des Süddeutschen Eisenbahnerverbandes und in der Stadt als streitbarer „Roter“ bekannt.
Für die Verbreitung des „Käsblatt“ ist gesorgt.
Der ebenfalls in der Eisenbahnwerkstätte beschäftigte Lackierer Johann Triendl übergibt seinem Arbeitskollegen Kollegen Jakob Birner vor Arbeitsbeginn leihweise das am Wochenende im Parteilokal erworbene „Käsblatt“, unter der Bedingung, dass dieser das humorvoll-ironische Witzblatt daheim lese. Anderen Tags gibt Birner die Satirezeitung zurück, Triendl wird aber von seinem Arbeitskollegen Johann Hoffmann bedrängt, ihn auch das“ Käsblatt“ lesen zu lassen. “
„Zugleich versicherte Hoffmann dem Triendl, daß er das Blatt innerhalb der Werkstatt nicht lesen werde. Als Hoffmann am anderen Tag das Blatt nicht zurückgab, forderte es Triendl von ihm, bekam aber von Hoffmann die Antwort, daß seine Kinder das Blatt zerrissen und seine Frau die Reste ins Feuer geworfen habe. Diese Angaben waren aber nicht wahr, das „Käsblatt“ war vielmehr in das Schubfach des Herrn Direktionsrates Braune gewandert“, berichtet die „Fränkische Tagespost“ am 12. April 1911.
Disziplinarische Maßnahmen werden eingeleitet. Die Verbreitung sozialdemokratischer Schriften am Arbeitsplatz ist verboten.
Zunächst erhalten die Eisenbahnarbeiter Bär, Triendl und Burgau einen Verweis, was die sozialdemokratische Presse dazu veranlasst, den Vorgang kritisch zu kommentieren und das Ganze als Racheakt gegenüber der Sozialdemokratie zu deuten.
Inzwischen hatte zu der Angelegenheit auch die katholische Zentrumspartei „mit großem Geschrei“ Stellung bezogen.
Das ruft die konservative Presse der nördlichen Oberpfalz auf den Plan.
Der in Weiden erscheinende „Oberpfälzische Kurier“, unter seinem Herausgeber Ferdinand Nickl und die anderen, dem Zentrum nahestehenden Zeitungen der nördlichen Oberpfalz, so auch die „Grenzzeitung“ aus Waldsassen mokieren sich darüber, dass in dem Satireblatt nicht nur die Staatsautorität, sondern auch die Religion und mehrere Zentrumsabgeordnete„ in ganz schändlicher Weise verhöhnt“ wurden.
Mit einem Verweis geben sich die „Schwarzen“ der klerikalen Zentrumspartei aber nicht zufrieden.
Berufsverbot
Die mediale Aufmerksamkeit, die dieser Fall daraufhin entwickelt, „schien der obersten Behörde der Eisenbahner arg mißfallen zu haben, so daß nunmehr die Arbeiter entlassen wurden“ vermeldet die sozialdemokratisch orientierte „Salzburger Wacht“ aus Österreich am 24.März 1911.
Der Rausschmiss der drei Werkstättenarbeiter war am 20. März 1911 erfolgt.
Eine Maßnahme, die von der ebenfalls in der Eisenbahnwerkstätte agierenden gewerkschaftlichen Konkurrenz, dem zentrumsnahen christlichen Bayerischen Eisenbahnerverband ausdrücklich begrüßt wird.
Ausschlaggebend war die Berichterstattung des „Oberpfälzischen Kurier“, der auf eine schärfere Bestrafung der drei Sozialdemokraten bestanden hatte.
Die Entlassung trifft langjährig beschäftigte Arbeiter, die zudem noch Familien zu versorgen haben.
Friedrich Burgau hat eine Dienstzeit von 21 Jahren hinter sich. Seine Kündigung wird damit begründet, dass er das „Käsblatt“ im Parteilokal verkauft hat.
Johann Triendl, mit 19 ½ Jahren Dienstjahren, ebenfalls Partieführer wie Bär, wird die Verbreitung dieser Schrift an seinem Arbeitsplatz vorgeworfen.
„Der Werkstättenarbeiter Bär wurde dann deshalb entlassen, weil er den Verkauf dieses Blattes in der von ihm betriebenen Wirtschaft geduldet hat“.
Es sind „tüchtige Arbeiter“, die ihrer Existenz beraubt wurden, stellt die „Fränkische Tagespost“ fest.
Amtlich wird die Maßregelung der drei Arbeiter damit gerechtfertigt, dass man die Schuld auf die sozialdemokratische Presse schiebt. Sie habe zu dem Zeitpunkt, als die drei Arbeiter zuerst mit einem Verweis bestraft wurden, die Sache ins „lächerliche gezogen“.
Johann Bär, der „Rote Wirt“.
Mit der Entlassung von Hans Bär trifft man die Herzkammer der Weidner Sozialisten.
Der „Bär Hanne“, wie er von seinen Genossen genannt wird, ist am 28.November 1870 in der mittelfränkischen Stadt Feuchtwangen geboren.
1893 tritt er als Schlosser in Nürnberg in die Dienste der damaligen bayerischen Staatsbahn.
Drei Jahre später, 1896 gehört der Bahnarbeiter Bär zu jenen 78 Männern aus Nürnberg,
die gemeinsam mit Münchnern und Regensburgern Eisenbahnarbeitern den Kern der
Stammbelegschaft der „IV. Centralwerkstätte“ in Weiden bilden. Diese hatte im Dezember 1896 ihre Arbeit aufgenommen.
Der Zuzug der auswärtigen Bahnbediensteten trifft auf Ablehnung von klerikaler Seite. Es „wird fortwährend gejammert, daß so viele Nürnberger in der neuen Eisenbahn-Centralwerkstätte eingestellt werden,“ teilt die „Fränkische Tagespost“ am 16.August 1897 in ihrer Berichterstattung über die erste sozialdemokratische Wählerversammlung in Weiden mit. Die Jammerei hat seinen Grund, vermutet man doch nicht zu Unrecht in den Reihen der Nürnberger Arbeiter die „roten Gesellen“ aus der „Roten Hochburg“ Bayerns.
Vierzehn Jahre später, im Jahr 1910 beschäftigt die Hauptwerkstätte (so die neue Bezeichnung seit 1907) bereits 635 Männer.
Johann Bär, Schlosser und Partieführer, betreibt die Wirtschaft in der Sonnenstraße 80, die er von der Bürgerbräu Weiden gepachtet hat, im Nebenerwerb.
Die Restauration ist das Parteilokal der Weidener Sozialisten und spielt eine zentrale Rolle für die Arbeiterbewegung in der nördlichen Oberpfalz.
Über dem Lokal wohnt Bär mit seiner Familie und widmet sich in der Auskunftstelle des „Arbeitersekretariats“ den Sorgen und Anliegen der arbeitenden Bevölkerung.
Reichsweit im Gespräch: „Bayern gerettet“
Die Nachricht über die Strafmaßnahme erreicht Berlin und findet Verbreitung nicht nur in der sozialdemokratischen Parteipresse.
Unter der Überschrift “Bayern gerettet“ berichtet der „Vorwärts“, das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 26.März 1911 über die Vorgänge in Weiden.
Auch die bürgerliche Presse informiert über die Ereignisse in der „schwarzen Oberpfalz“.
Der Gauverband der nordbayerischen Sozialdemokraten weist auf die schon seit langem währende Hetze gegen die Mitglieder des Süddeutschen Eisenbahnerverbandes hin und sieht im Vorgehen gegen die drei Staatsarbeiter ein wohldurchdachtes System.
Die Entlassung findet zu einem Zeitpunkt statt, in der in der bayerischen Politik eine heftige Debatte über die Beschäftigung freigewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Arbeiter in Staatsbetrieben geführt wird.
Bereits im Juni 1910 hatte die Bayerische Zentrumspartei das Verbot des Süddeutschen Eisenbahnerverbandes gefordert. Es dürfe nicht länger geduldet werden, dass Staatsbeamte und Staatsarbeiter einer sozialdemokratischen Organisation angehören.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht insbesondere das von der freien Eisenbahnergewerkschaft im Jahr 1905 proklamierte Streikrecht. Streiken, so die Ansicht der Zentrumspolitiker sei insbesondere im Falle einer Mobilmachung staatsgefährdend.
In Folge ergeht nun ein Regierungs-Erlaß, in dem den Präsidenten der bayerischen Eisenbahndirektionen die Überwachung der politischen Gesinnung der Mitglieder des Verbandes aufgetragen wird.
Der „Weidener Fall“.
Die Entlassung ist aber auch die Retourkutsche für einen Vorfall, der sich im Herbst 1910 zugetragen hat und als „Weidener Fall“ in die zeitgenössische Presselandschaft eingeht.
Nicht noch einmal wollen sich der Präsident der Regensburger Bahndirektion und der Vorstand der Weidener Eisenbahnwerkstätte eine Blöße geben.
In der Zentralwerkstätte war durch Plakatanschlag im Oktober 1910 bekanntgegeben worden, dass jede Art parteipolitischer und gewerkschaftlicher Agitation in den Arbeitsräumen und Werkstätten verboten sei und dass jeder Fall der Nichtbeachtung dieses Verbotes „unnachsichtig“ geahndet werde.
Drei Mitglieder des Süddeutschen Eisenbahnerverbands widersetzen sich am Tag nach der Bekanntmachung dem Betätigungsverbot und riskieren damit disziplinarische Maßnahmen.
Die „Salzburger Chronik“, eine katholisch ausgerichtete österreichische Zeitung, schildert in ihrer Ausgabe vom 12.Oktober 1910 die Vorkommnisse:
„Als am darauffolgenden Tage drei sozialistische Agitatoren und Mitglieder des sozialdemokratischen Eisenbahnverbandes dem Verbote zum Trotz an der Eingangstüre zum Hofe der Zentralwerkstätte unter die zur Arbeit gehenden Werkstättenarbeiter sozialdemokratische Flugblätter verteilen, wurden sie durch den Vorstand der Zentralwerkstätte pflichtgemäß der Direktion Regensburg angezeigt und auf Anordnung des Präsidenten derselben im Vollzug des angeschlagenen Erlasses auf kleinere Stationen strafversetzt“.
Die sozialdemokratischen Aktivisten waren von christlich organisierten Arbeitsgenossen des Bayerischen Eisenbahnerverbandes denunziert worden.
Ausschlaggebend für die „Strafverfügung“ war für die Eisenbahn-Oberen der Ort, an dem die Flugblätter verteilt wurden. Der Bereich der Eingangstüre zählt als bahneigener Grund.
Dass die Flugblätter dort Verbreitung fanden, wird von den Sozialdemokraten vehement bestritten.
Sie beharren darauf, dass die „roten Traktätchen“ (so die „Allgemeine Zeitung“) außerhalb der Werkstätte überhändigt wurden. Diese Feststellung spiegelt sich auch in der Berichterstattung der „Allgemeinen Zeitung“ und der sozialdemokratischen „Münchner Post“ wieder.
Trotzdem nimmt die „staatsgefährdende Aktion“ für die Beteiligten ein gutes Ende.
„Die drei Agitatoren waren bereits in die ihnen angewiesenen Orte verzogen, als sie durch ein Telegramm des sozialdemokratischen Abgeordneten Roßhaupter überrascht wurden, des Inhalts, der Minister billige ihre Strafversetzung nicht und habe die betreffende Entschließung des Eisenbahnpräsidenten aufgehoben. Sie (die Bestraften) sollen sich in Weiden wieder zur Arbeit melden, der Vorstand der Zentralwerkstätte sei angewiesen, sie wieder einzustellen. So geschah; auch die drei sozialdemokratischen Agitatoren haben in Weiden ihre Arbeit wieder aufgenommen“.
Die Zwangsversetzungen konnten durch Intervention des Vorsitzenden des Verbandes des Süddeutschen Eisenbahn- und Postpersonals, Albert Roßhaupter bei dem, seit 1. Januar 1904 amtierenden Verkehrsminister Heinrich von Frauendorfer rückgängig gemacht werden.
Das liberale Mitglied der bayerischen Regierung hatte Roßhaupter geraten, die Flugblattverteiler sollten Widerspruch gegen ihre Versetzung einlegen. Was die „Gemaßregelten“ sofort taten.
Die Rücknahme der Versetzungen führt zu schweren Angriffen gegen den Eisenbahnminister, den man in einer Polemik sogar den Titel „Staatsminister und Schirmherr der Sozialdemokratie“ verleiht. Die Vorkommnisse in Weiden und das Verhalten des Ministers führen zu einer heftigen Debatte, die selbst österreichische Zeitungen beschäftigt.
Rechtfertigen muss sich aber auch der bayerische Zentrumsabgeordnete und Bahnverwalter Johann Cadau, der in Weiden eine Rede gehalten hatte, in der er auf die „bekannten“ Weidener Vorgänge zu sprechen kam. In seinem Vortrag hielt er es für „angebracht, ein dienstliches Gespräch des Verkehrsministers mit einem, diesem unterstellten Eisenbahnpräsidenten öffentlich zu machen“, so die in München wöchentlich erscheinende liberale „Allgemeine Zeitung“, die den Weidener Vorfällen in ihrer Berichterstattung vom 22. Oktober 1910 breiten Raum einräumt.
Weiden wird in diesem Artikel als „Metropole oberpfälzischen Mißvergnügens“ bezeichnet.
Kenntnis vom Inhalt dieses Gespräches hatte Cadau vermutlich vom Regensburger Eisenbahnpräsidenten erhalten. Das Mitglied der bayerischen Abgeordnetenkammer steht als Königlicher Bahnverwalter im Bayerischen Staatsdienst und muss sich nun wegen seiner Ausführungen gegenüber seinen Vorgesetzten rechtfertigen; auf disziplinarische Maßnahmen wird aber verzichtet.
Die Stellung des Ministeriums zu dem Süddeutschen Eisenbahnerverband entwickelt sich immer mehr zum innenpolitischen Zankapfel in Bayern. Die Auseinandersetzungen zwischen den Zentrumspolitikern und dem Eisenbahnminister nehmen an Schärfe zu.
Man wirft von Frauendorfer vor, dem „roten“ Eisenbahnerverband gegenüber zu nachgiebig zu sein. Außerdem erwecke er den Eindruck einer staatlichen Duldung des Streikrechts.
Das Zentrum besteht zudem auf dem Verbot der Zugehörigkeit von Beamten zu sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften.
Die Kontroverse endet letztlich damit, dass die Zentrumspartei die Beratung des Verkehrsetats in der Abgeordnetenkammer im Oktober 1911 verweigert, und der Prinzregent Luitpold am 14. November 1911 den Landtag auflöst. Die Folge sind Neuwahlen.
Der Verkehrsminister Heinrich von Frauendorfer verbleibt bis zum 12. Februar 1912 in seiner Funktion.
Doch 1918 kehrt der gebürtige Oberpfälzer wieder in sein Amt zurück. Die Bayerische Revolution vom 7. November macht es möglich. Kurt Eisner, der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern nimmt Heinrich von Frauendorfer als parteilosen Experten im November 1918 in sein Kabinett auf.
Und ein Koalitionsrecht garantiert nun die freie gewerkschaftliche Betätigung auch in Staatsbetrieben.
Die Repression gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und den Gewerkschaften hat damit vorerst ein Ende.